Vollblüter. Jede Einzelne. Bereit für das Rennen, alle Muskeln gespannt. Gestriegelt, in teuren, dezenten Designer-Hosenanzügen in Grau oder Dunkelblau, klassischen weißen Blusen, schwarzen Roben. Alle Spitzenjuristinnen haben so einen arroganten Stolz gemein, eine ironische Art, den Raum einzunehmen, eine Umhängetasche quer über die Schulter
Die ersten fünf Sätze aus Prima Facie
geschwungen.
Tessa hat sich ihren Weg aus der Londoner Arbeiter:innenschicht nach oben gearbeitet, sich gegen alle Widerstände ihren Platz an der Uni erkämpft und ist Juristin geworden, Strafverteidigerin. Sie ist sich sicher, dass das Gesetz dazu da ist, alle Menschen zu schützen. Auch wenn ihnen Dinge wie Vergewaltigung vorgeworfen werden. Ihre Kreuzverhöre sind legendär, ihre Erfolgsrate hoch. Für Tessa ist die juristische Wahrheit das Wichtigste. Bis ihr selbst etwas passiert, was sie an dem ganzen System zweifeln lässt und ihr zeigt, dass reale Geschehnisse nicht immer mit der juristischen Wahrheit übereinstimmen müssen.
Ab hier Spoiler!
Im zweiten Drittel der Geschichte wird Tessa vergewaltigt und mit dieser Vergewaltigung ändert sich alles. Ihr Leben, ihre Karriere, ihre Sicht auf das Gesetz und die Rechtsprechung. (In Großbritannien. Wobei ich nicht glaube, dass das in Deutschland arg anders ist.) Suzie Miller und Pegah Ferydoni erzählen das extrem detailliert und schmerzhaft, es mir tut fast physisch weh, der Geschichte zu folgen und mit ihr durch die Geschehnisse zu gehen. Miller beschreibt diese Sachen so klar und nüchtern auf eine Art, dass ich das Hörbuch nicht mehr Abends anhören kann. Und durch den gesamten zweiten Teil zieht sich das Echo dieser Erfahrung. Die Erkenntnis, dass es nicht nur um diesen Moment geht, sondern um all das, was dieser Moment zerstört, verändert und beeinflusst, für den Rest von Tessas Leben. Dieses letzte Drittel macht mich wütend und macht dieses Buch so wichtig und so gut. Weil es mir Dinge erzählt, die ich so noch nicht gehört habe und mich auf Missstände aufmerksam macht, die wir ändern müssen. Aber:
Zuerst war Prima Facie ein Ein-Frau-Theaterstück mit Jodie Comer, das erst in Australien gezeigt wurde, aber auch am West End und am Broadway. Adaptionen gab und gibt es auch in mehreren deutschen Städten. Das ist ein abendfüllendes Programm. Das Hörbuch hat aber mehr als 10 Stunden. Besonders in den ersten beiden Dritteln hat es für mich seine Längen gehabt. Ich hab nach spätestens einer Stunde verstanden, dass Tessa dieser Beruf wichtig ist, dass er ihr nicht in den Schoß gefallen ist und dass ihre Herkunft es immer noch schwerer macht, als wenn sie aus einer reichen Anwaltsfamilie gekommen wäre. Und ich hab genauso verstanden, dass sie großen Wert auf die „juristische Wahrheit“ legt, was sich eben im Lauf der Geschichte ändert. Aber nachdem ich das verstanden habe, kamen noch etwa vier Stunden Hörbuch, die mir leider kaum irgendwas Neues erzählt haben. Durch die Aufteilung in „Früher“, „Davor“ und „Danach“ war aber klar, dass es ein definierendes Ereignis geben muss und darauf habe ich dann irgendwann nur noch gewartet.
Immer noch, Prima Facie ist eine gewaltige und wichtige Geschichte, ein toll gesprochenes Hörbuch, das aber leider seine Längen hat. Ich hoffe, dass es in diesen Längen nicht zu viele Menschen verliert. Ich habe noch keine Theaterversion gesehen, muss das aber unbedingt noch nachholen.
Prima Facie von Suzie Miller wurde übersetzt von Katharina Martl und gesprochen von Pegah Ferydoni. Die deutsche Buchausgabe erschien bei Kjona, das Hörbuch bei speak low. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
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