Das dumpfe Zuschlagen des Friedhofsgatters hinter mir hörte sich so endgültig an, als ob es mich nie wieder herauslassen wollte.
Ich bin oft auf dem Friedhof. Bin hier für mein Leben gerne, obwohl ich keinen derer, welche hier liegen, gekannt habe, als sie noch am Leben waren. Dafür kenne ich sie jetzt umso besser. Ihre Liebsten, die Kinder, Ehepartner, heimlichen Geliebten und alten Freunde sind es, die mir mein Bild über die hier liegenden geben. Wenn sie an den Gräbern stehen oder auf den Parkbänken sitzen, mit sich selbst, den Liegenden oder oft auch gar nicht sprechen, dann geselle ich mich zu ihnen. Schweigend schenke ihnen meine vollkommene Aufmerksamkeit, bis sie mich bemerken. Dann erzählen sie. Sie erzählen dann von den Liegenden und von den Erinnerungen und von Geschehnissen und den Gründen und der Trauer.
Sie erzählen und ich höre zu. Ich habe eine Gabe. Ich nehme ihnen die Last der Trauer. Wenn sie fertig sind, haben sie vergessen. Dann schauen sie mich mit fremden Augen an, sehen sich verwirrt um. Springen von der Bank auf und drehen sich von den Gräbern weg. Manche fragen mich dann noch, ob wir uns kennen würden und ich schüttele den Kopf. Hastig verlassen sie den Friedhof, weil sie nicht mehr wissen warum sie hergekommen sind. Und was sie nicht mehr wissen, macht sie nicht mehr traurig und sie kommen nie wieder. Normalerweise. Heute aber, kurz nachdem sich das Gatter so energisch schloss, entdeckte ich ein Mädchen vor einem frischen Grab, welches ich vor nicht allzu langer Zeit auch hier gesehen hatte. Die Kleine mit den lockigen Haaren saß auf dem laubbedeckten Boden, die Beine eng am Körper, mit den Armen umschlungen. Das letzte Mal hatte sie um ihren Vater getrauert, vom ihm erzählt und ihn dann vergessen. Die Liegende vor uns war ihre Mutter, dass verriet der Name auf dem Holzkreuz. Ungeachtet des feuchten Bodens setzte ich mich neben sie. Mit traurigen Augen sah sie mich an.
“Mama hat mir von Papa erzählt, aber ich konnte mich nicht an ihn erinnern. Aber an dich kann ich mich erinnern. Und dass ich dir von ihm erzählt habe.” Sie sprach den Vorwurf nicht aus. Ich spürte ihn dennoch. “Erzähl mir von meinem Vater.”
Zum ersten Mal war ich es, der redete. Als ich anfing, krächzte meine Stimme, weil ich sie schon seit langem nicht mehr benutzt hatte. Ich erzählte von ihrem Vater, alles was ich wusste. Die Erinnerungen von ihr, ihrer Mutter, den Geschwistern, Freunden und Verwandten. Und sie lachte, schauderte, weinte, hörte gespannt zu, lächelte, schluchzte und sah glücklich aus. Und als ich fertig war, krächzte meine Stimme vom vielen Reden. Mit verweinten Augen sah mich das Mädchen zufrieden an.
“Ich will sie nicht vergessen.”
Verwirrt stand ich auf und hastete zum Ausgang, das Gatter stand offen. Es hatte gewusst, dass es sich nie wieder für mich schließen würde.
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